Niedersachsen, Justizministerium, Justizministerium will mit Erlass Vollzugslockerungen massiv einschränken

Das niedersächsische Justizministerium will mit einem Erlass, der jetzt bekannt geworden ist, Vollzugslockerungen massiv einschränken. Der Erlass, der PrisonWatch vorliegt, stammt vom 04.Juli 2019 -4511 I- 305.50-. So lässt sich dem Erlass entnehmen, dass die Vollzugsanstalten, bevor sie Vollzugslockerungen oder Folgelockerungen gewähren wollen, noch umfassendere Prüfungen vorzunehmen haben als bisher. Vor jeder Lockerung müssen die Vollzugsanstalten nun Konferenzen abhalten. Jede Lockerung muss nun mit dem Gefangenen vor- und nachbesprochen werden. Bevor dieses nicht geschehen ist, darf keine Folgelockerung gewährt werden. Dieses führt unweigerlich dazu, dass den Gefangenen deutlich weniger Lockerungen gewährt werden können als bisher. Die Vollzugsanstalten müssen in jedem Fall und für jeden Gefangenen konkret begründen, inwiefern die Lockerung den individuellen Vollzugsziel dient. PrisonWatch kritisiert diese Einschränkungen massiv. Sie werden im Ergebnis dazu führen dass noch weniger Gefangenen Lockerungen gewährt werden können. Mit solchen Maßnahmen fördert die Justiz keine Eingliederung und sorgt schon gar nicht für mehr Sicherheit. Denn wenn den Gefangenen keine Möglichkeiten gegeben werden sich für die Entlassung vorzubereiten, werden sie völlig unvorbereitet entlassen. So sorgt die Justiz letztlich dafür, dass die Rückfallquoten steigen werden. Ganz abgesehen davon, das durch diesen Erlass die bestehenden gesetzlichen Regelungen faktisch umgangen werden sollen. Es werden mit Sicherheit zahlreiche Klagen kommen. Wir werden über die Entwicklung weiter berichten.

    Kommentare 2

    • Der Artikel ist leider irreführend und verschleiert so den eigentlichen Skandal des Erlasses.

      I. Flucht-/Missbrauchsgefahr

      Die im Erlass einführenden Ausführungen sind lediglich klarstellender Natur und berichten nichts Neues. Es geht um die Tatsache, dass Vollzugslockerungen einzigartige (singuläre) Entscheidungen sind und immer einer individuellen Prüfung mit Prognosecharakter bedürfen.

      Dass die einmalige Feststellung einer ,,Eignung" für eine Unterbringung im offenen Vollzug, eine Lockerung oder vollzugsöffnende Maßnahme nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, dass bei der oder dem Gefangenen oder Sicherungsverwahrten zu jeder Zeit kognitive und emotionale Verarbeitungsprozesse erfolgen können, die sich auf die Prognose eines Flucht- und/oder Missbrauchsrisikos auswirken, liegt in der Natur der Sache und bedarf ebenfalls keiner expliziten Erwähnung - Menschen sind eben emotional-geistige Wesen.

      Warum macht das Ministerium also so eine Einleitung?

      Aus psychologischer Sicht wird der Leser dadurch erstmal aufmerksam gemacht und eine Marschrichtung vorgegeben. Die Benennung der vielen psychologischen und gesetzgegebenen Selbstverständlichkeiten wirken in Ihrer Gesamtheit wie eine Übertreibung. Es wird dramatisiert. Ganz konkret kommt das in der Wortwahl zum Ausdruck, wenn von "hinweg-TÄUSCHEN" gesprochen wird und "ZU JEDER ZEIT" die emotionalen und kognitiven Verarbeitungsprozesse der Gefangenen in sofortigen Zusammenhang mit der Prognose eines Flucht- und/oder Missbrauchsrisikos gesetzt werden.

      Bei diesem Sprachstil ist es nur folgerichtig, dass das Ministerium diese Einleitung mit der zwingenden Forderung ("zwingend erforderlich") endet, dass Informationen über die Gefangenen, die für die prognostische Einschätzung relevant sein können, zeitnah vor jeder Anordnung zusammengeführt und bewertet werden. Nur so könne sichergestellt werden, dass jede Entscheidung auf einem vollständig und zutreffend ermittelten Sachverhalt beruhe.

      Nun gut, der Leser (in der Regel ein Beamter aus dem mittleren oder gehobenen Dienst), der zugleich Entscheider ist, ist durch diesen Sprachstil gut eingestimmt.

      Der eigentliche Skandal folgt jedoch im zweiten Abschnitt des Erlasses.

      II. Sicherheit der Allgemeinheit

      Hier wird der Fokus explizit auf die Gefangenen gerichtet, bei denen nach der bisherigen Prüfung eine Flucht-/Missbrauchsgefahr nicht zu befürchten ist.

      Das Justizministerium als obere Landesbehörde ist den Vollzugsbehörden gegenüber direkt weisungsbefugt und fordert sogleich, dass bei Gefangenen nach der Feststellung, dass bei der in Aussicht genommenen Lockerung weder eine Flucht noch ein Missbrauch zu Straftaten zu befürchten ist (Tatbestandsvoraussetzungen), bei der anschließenden Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens Folgendes zu berücksichtigen sei:

      Vollzugslockerungen seien kein Selbstzweck.
      Zudem bedürfen diese immer einer inhaltlichen und zeitlichen Ausgestaltung, die auf die Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 NJVollzG, also die Resozialisierung des Gefangenen, ausgerichtet ist. Die Anordnung jeder Lockerung habe sich streng daran zu orientieren, welche Maßnahmen im Einzelfall zur Erreichung dieses Zieles erforderlich seien.

      Bis hierhin bleibt nur festzustellen, dass es sich um bereits im Gesetz verankerte Grundsätze und Normen handelt.

      Bemerkenswert ist in sprachlich-psychologischem Kontext jedoch, dass das Ministerium in erster Linie den Satz "Vollzugslockerungen sind kein Selbstzweck." anführt. Hierdurch wird auf subtile Art die rhetorische Wirkung des ersten Abschnitts verstärkt und in den zweiten - inhaltlich völlig unterschiedlichen - Abschnitt übergeleitet.

      Was bei inhaltlicher Betrachtung nunmehr das erste Mal richtig aufhorchen lässt, ist, dass das Ministerium ihren Vollzugsbehörden in Bezug auf die Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens eine klare Richtung vorgibt. Demnach seien bei der Prüfung, ob die Anordnung einer Lockerung der Resozialisierung diene, stets auch innervollzugliche Maßnahmen, die dazu gleichermaßen geeignet sein können, in die Ermessensausübung einzustellen.

      Hier wird erstmalig das Wesen des Erlasses sichtbar: Die Exekutive schwingt sich zum Gesetzgeber auf und versucht das Gesetz mitsamt seinen Grundsätzen durch ihr "Hausrecht/Verwaltungsvorschriften" zu untergraben.

      Dem Gesetzgeber war die Resozialisierung ein zentrales Anliegen des Strafvollzuges in Niedersachen; gemeint war damit explizit die soziale Integration der Strafgefangenen. Hierzu hat er sich der Gesetzgeber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts argumentativ bedient. Nicht ohne Grund hat Niedersachsen den Chancenvollzug eingeführt und in § 3 NJVollzG zum Ausdruck gebracht. Aus § 3 NJVollzG hat jeder niedersächsische Gefangene einen Anspruch auf soziale Integration. Wie diese soziale Integration durch innervollzugliche Maßnahmen gleichfalls geeignet sein könnten, wie entsprechende Maßnahmen außerhalb der Anstalt, erschließt sich bereits beim ersten Gedanken nicht. Lernt man Autofahren gleichfalls gut in einem Fahrsimulator?

      Aus rechtsstaatlicher Sicht nähert sich an dieser Stelle der Erlass seinem unrechtmäßigen Höhepunkt:
      Die Verfasserin des Erlasses weist auf § 13 Abs. 3 Satz 1 NJVollzG hin, welcher als Rechtsfolge ein intendiertes Ermessen vorsehe.

      § 13 Abs. 3 Satz 1 NJVollzG lautet: Ausgang und Freigang sollen erst angeordnet werden, wenn hinreichende Erkenntnisse über die Gefangene oder den Gefangenen vorliegen, aufgrund derer verlässlich beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen des Absatzes 2 im Einzelfall gegeben sind; dabei sind die Vollzugsdauer und die Länge des davon bereits verbüßten Teils zu berücksichtigen.
      Der Gesetzgeber ging davon aus, dass Lockerungsentscheidungen der Resozialisierung und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dann hinreichend Rechnung tragen, wenn die Vollzugsbehörde in die Lage versetzt wird, Lockerungen auf der Grundlage eines ausreichenden Beobachtungszeitraumes und einer aussagekräftigen Tatsachenermittlung zu planen bzw. zu gewähren oder zu versagen. Ein hieraus vom Ministerium nun verlangtes Zeitmoment (Beobachtungsphase) vor der Lockerungsentscheidung/-gewährung ist insoweit vom Gesetz durchaus vorgesehen.

      Absolut inakzeptabel ist indes das Postulat des Ministeriums, wonach dieses Ermessen in Richtung der Erreichung des Vollzugzieles „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ vorgeprägt sei.

      Das Ministerium begründet seine Rechtsauffassung damit, dass die Vorschrift für den Regelfall von einer Ermessensausübung dahingehend ausgeht, dass nur bei verlässlichem Vorliegen der Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 NJVollzG eine Anordnung von Ausgang und Freigang erfolgt.
      Jedoch hat der Gesetzgeber die Anordnung von Lockerungen nach § 13 NJVollzG in seinem ersten Absatz bewusst nur unter das Vollzugsziel des § 5 Satz 1 NJVollzG gestellt. Damit ist der Zweck von Lockerungen klar definiert: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ (Resozialisierung).
      Gerade das Vollzugsziel des § 5 Satz 2 NJVollzG („Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“) hat der Gesetzgeber bewusst nicht in die Lockerungsnorm des § 13 NJVollzG integriert.
      Vielmehr hat der Gesetzgeber erklärt, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen auch künftig den Vollzugslockerungen maßgebliche Bedeutung bei der Erreichung des Vollzugszieles der sozialen Integration zukommen wird. Dies werde auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass in Absatz 2 ausdrücklich normiert ist, dass Lockerungen der Erreichung des Vollzugszieles nach § 5 Satz 1 dienen müssen.

      Erwähnenswert ist auch, dass das Ministerium den Begriff der „Sicherheit der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ (Schutz der Bevölkerung) irrtümlich - aber wohl ganz bewusst - mit einem allgemeinen Sicherheitsbegriff gleichsetzt. Richtig ist zwar, dass der Begriff der Sicherheit der Anstalt auch die „äußere Sicherheit“ und damit unter anderem den Schutz der Allgemeinheit vor Straftaten der Gefangenen umfasst. Der in § 5 Satz 2 NJVollzG gemeinte Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten der Gefangenen umfasst jedoch laut Gesetzgeber nicht nur die Phase des eigentlichen Strafvollzuges, auf die sich der Begriff der „Sicherheit der Anstalt“ bezieht, sondern vor allem auch die Zeit nach der Entlassung. Insoweit besteht also eine unmittelbare inhaltliche Verknüpfung zwischen der sozialen Integration und dem Schutz der Allgemeinheit: Jedenfalls für die Zeit nach der Entlassung aus dem Strafvollzug wird der bestmögliche Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten der Gefangenen durch eine wirksame soziale Integration der Gefangenen erreicht. Genauso verstand der Gesetzgeber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006, worin ausdrücklich betont wird, dass die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger folge und zwischen dem Integrationsziel des Vollzuges und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, „insoweit kein Gegensatz“ bestehe.
      Vor diesem Hintergrund hielt es der Gesetzgeber nur für konsequent, beide Gesichtspunkte nicht mehr - wie bisher in § 2 StVollzG - nur als gleichwertige Aufgaben des Vollzuges, sondern auch als gleichwertige Vollzugsziele zu bestimmen. Eine Verschärfung der Vollzugsbedingungen war damit weder begrifflich noch konzeptionell verbunden.

      Verfassungsrechtlich unterliegt die Exekutive schließlich dem Vorbehalt des Gesetzes und ist demnach aus Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Lockerungen am Zweck des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten auszurichten, liefe demnach eindeutig dem in § 4 NJVollzG zuwider. Dieser sieht vor, dass Gefangene nur den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen ihrer Freiheit unterliegen. Als Verwaltungsvorschrift ist der Erlass damit nicht in der Lage das Gesetz einzuengen oder zu erweitern.

      Wenn das Ministerium in ihrem Erlass den Halbsatz „Das Ermessen ist damit in Richtung der Erreichung des Vollzugzieles „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten vorgeprägt,…“ durch Fettschrift hervorhebt, so wird dadurch lediglich die Indoktrination deutlich und die zuvor gezeigte Rhetorik vollendet:

      Dem Leser (Rechtsanwender) wird in Bezug auf seinen täglichen (Ermessens-)Dienst der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten deutlich einprägsam aufgedrängt.

      Abschließend verwundert es nicht, wenn der Erlass am Ende des zweiten Abschnitts noch einmal seine Rechtsauffassung fehlbar offenbart:

      „§ 13 Abs. 3 Satz 2 NJVollzG normiert zudem ein intendiertes Ermessen im Hinblick auf die Gewährung von Urlaub. Auch hier müssen besondere Gründe für eine vom Regelfall abweichende Entscheidung vorliegen.“
      Der Gesetzgeber hielt es für konsequent den Urlaub in § 13 NJVollzG zu integrieren. Hierdurch wurde er an das Ziel der sozialen Integration gebunden, welches bereits den gesamten Vollzug an diesem Ziel ausrichtet. Am Ziel nach § 5 Satz 2 NJVollzG ist auch der Urlaub nicht geknüpft. Das Regelbeispiel, wonach Urlaub erst nach Bewährung in Ausgang oder Freigang angeordnet werden soll, hatte nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich den Sinn die relativ starre Regelung des § 13 Abs. 2 StVollzG zu Gunsten einer flexibleren Lösung aufzugeben, um auch eine frühere Lockerungsgewährung ermöglichen zu können, falls die Erkenntnisgrundlage bereits hinreichend fundiert ist.

      „Besondere Gründe“ für das Abweichen vom Regelfall sah der Gesetzgeber nicht und sieht das Gesetz explizit nicht vor.

      III. Fazit

      Der eigentliche Skandal dieses Erlasses ist die desolate Rechtsauffassung der obersten Landesbehörde der niedersächsischen Justiz – des Justizministeriums.

      Jeder vom Erlass Betroffene ist anzuhalten den Rechtsweg zu nutzen und sich gegen ablehnende Entscheidungen der Vollzugsbehörden zur Wehr zu setzen. Nur so erfahren die Entscheidungen der Vollzugsbehörden (so auch mittelbar der Erlass selbst) durch den Richter eine unmittelbare Prüfung am alleinigen Maßstab des Gesetzes.

      Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Deutsche Volk am 23. Mai 1949 kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz gegeben.

      Das Grundgesetz gilt bedingungslos.

      Seit 70 Jahren.

      Für Jeden.
    • Welche Möglichkeiten haben Inhaftierte sich gegen die fehlerhaft eingeleiteten Maßnahmen, resultierend aus diesem Erlass, zu wehren? Welche Rechte hat ein Gefangener mit höchster Lockerungsstufe (Freigang) und zwei Jahren beanstandungsfreier Ausgänge, Freigang und Urlaub, dem jetzt plötzlich weitere Lockerungen versagt werden? Es heißt, der Einzelfall entscheidet angeblich. Hier werden Inhaftierte mit guter Führung über eine lange Zeit, die sich im offenen Vollzug bewährt haben, nahezu gleichgesetzt mit Gefangenen im geschlossenen Vollzug. Wer kann hier helfen?

    Hauptsache weggesperrt.


    Die Situation der Gefangenen in Deutschland bleibt weitgehend unbeobachtet. Das Strafvollzugssystem ist ein in sich geschlossenes System, dass allenfalls Aufmerksamkeit findet, wenn gravierende Vorfälle geschehen. PrisonWatch durchbricht diese Schranken, indem auf die Situation der Gefangenen aufmerksam gemacht wird. In ausführlichen Berichten wird die Situation des Strafvollzuges dargestellt und ergangene Rechtsprechung besprochen und kommentiert.